Am nächsten Morgen trat er seinen Dienst im Polizeirevier in der Landauer Straße an, wo er von Kriminalrat Stoll empfangen wurde. Feisel nahm seinen Dienstausweis mit der Aufschrift “KHK Feisel, Kriminalpolizei Zweibrücken“ und in der Waffenkammer seine Dienstwaffe entgegen. Nachdem er dem Ermittler-Team vorgestellt wurde, und nach kurzem Small-Talk zum Kennenlernen gingen Stoll und Feisel zur Arbeit über.
»Wie geht es der Kollegin?«
»Sie ist nach wie vor in psychologischer Behandlung. Wir stehen ihr so gut wie möglich zur Seite, sie ist eine gute Polizistin, und hier sehr beliebt. In dieser Woche ist sie für die Prüfung zur Hauptkommissarin angemeldet, und jetzt das. Schade, das Ganze ist für uns wie ein Schlag ins Gesicht.«
»Und Kollege Steiner?«
»Wie meinen? Sie wissen, dass er tot ist.«
»Na, es könnte doch sein… Ich meine, irgendwer muss doch die Täter gewarnt haben.«
»Konkrete Zeugenaussagen gibt es nicht. Nachbarn sagen, sie hätten aus Angst die Fenster zugemacht beziehungsweise zugelassen, es hat als niemand gesehen, wer von aus geschossen hat. Manche haben auch Kinder, und diese Gegend ist nicht besonders beliebt. Laut Spurensicherung hat sich der Kollege Steiner noch wegdrehen und wegrennen wollen, während die Täter auf ihn geschossen haben.«
Feisel nickte. »a, ich hab` gelesen, dass sie ihn aufgefordert hat, ihr zu folgen.«
»Hm…!«, stimmte Stoll nickend zu.
»Die einzige Zeugin ist also die Kollegin Schrader.«, folgerte Feise.
Stoll stimmte erneut zu.
»Und wenn ich da jetzt hinfahre…, brauche ich dann Begleitung vom SEK?«
»Ich finde, Sie sollten alleine in die Langentalstraße fahren. Sie kennt dort niemand, ihr Kölner Autokennzeichen lässt sicher nicht auf Observierung schließen. Beobachten Sie den Tatort. Sammeln Sie Indizien, befragen Sie Passanten und Anwohner. Aber seien Sie auf der Hut.«
»Na, danke für den Tipp…! Könnten Sie bitte den Kontakt zwischen mir und der Kollegin Schrader herstellen?«
»Keine schlechte Idee!«
Er fuhr durch die Lammstraße und durch die Fruchtmarktstraße nach Bubenhausen unter der Autobahnbrücke hindurch, was er mit »Ah, genau!« kommentierte er kannte die Autobahnabfahrt bereits) und dort auf den Etzelweg. Unterwegs rief er seinen Vorgesetzten Kramer in Köln an und erstattete Bericht. An der Kreuzung Gleiwitzstraße/Etzelweg/Langentalstraße bog er nach rechts in die Langentalstraße ab, fuhr ein paar Meter bis kurz vor den zweiten Wohnblock. Er suchte nach Indizien aus der kompletten Umgebung, indem er die Scheibe runterkurbelte und versuchte, aus irgendwelchen Gesprächen auch immer etwas herauszuhören, und wenn es nur die allgemeine Stimmung dieser Gegend war oder das allgemeine Niveau der Anwohner, meist ist das alles der jeweiligen Umgebung angepasst.
Nachdem er nach einigen Minuten aus einer Wohnung mit gekipptem Fenster vernahm, dass jemand »Hall dei dummie Fress!« rief, ging am zweiten Wohnblock eine Frau mittleren Alters vorbei. Ihm fiel auf, dass sie unter Durchschnitt groß und schlank gewesen ist, ihr graues Haar trug sie kurz, um den Ausruf aus dem Fenster schien sie sich nicht zu kümmern. Sie starrte nur auf die Erde vor sich hin.
Zu seiner Überraschung rief im selben Moment die Kollegin Schrader ihn an. Er erkundigte sich nach ihrem Gemütszustand und teilte ihr mit, wo er war und was er dort tat. Wenige Minuten später klopfte eine Frau auf der Beifahrerseite von außen an die Scheibe, öffnete die Tür und nahm neben ihm Platz.
»Sie sind wohl schon länger bei der Kripo.«
Er strich sich durchs Haar und entgegnete lächelnd: »Wie kommen Sie darauf? Hauptkommissar Matthias Feisel. Hallo.«
»Kriminaloberkommissarin Nicole Schrader.«
Nachdem Sie einander vorgestellt hatten, sagte Schrader: »Ich fühl` mich einerseits geehrt, dass ein Kollege aus Köln mich vertritt. Andererseits kommt es ein wenig so an – und dafür können Sie aber nichts – , als wenn wir Zweibrücker nicht in der Lage seien, eigenständig unsere Bürger zu beschützen.«
Feisel dachte an sowas wie “Verzeihung, ich tue mal so, als sei ich nicht ihr Kollege, sondern komplett außenstehend, dann würde ich wahrscheinlich auch genau in diese Richtung denken“. In Wahrheit argumentierte er aber: »Es kommen wieder bessere Zeiten, für Sie und für die Zweibrücker Polizei. Was machen Sie hier eigentlich? Sie sind doch gar nicht im Dienst, wenn ich richtig informiert bin.«
»Sie sind nur zum Teil richtig informiert. Ich will den Fall lösen.«
»Hut ab vor Ihrem Ehrgeiz. Den sollten Sie – und das sage ich als Ihr Kollege und mit guten Absichten – in Fällen einsetzen, von denen Sie nicht persönlich betroffen sind.«
Schrader schwieg einen Moment und sagte; »Wenn ich so richtig überlege, sind wir als Polizisten alle irgendwie von jedem Fall persönlich betroffen.«
»Wie gut kannten Sie den Kollegen Steiner eigentlich?«
Schrader schaute aus dem Beifaherfenster und schniefte.
»Oh. Verstehe… Ein Fettnäpfchen. Nehmen Sie Medikamente?«
Schrader sah in an. »Nur Beruhigungstropfen.«
»Frau Kollegin, bitte nicht böse sein. Aber sie gehören hier nicht hin. Ich möchte, dass Sie nach Hause gehen. Wenn möglich, schlafen Sie. Schlaf ist gesund.«
»Als ich eben hier hin kam, lief hier eine ältere Frau entlang.«
»Drau Schrader…«
»Der Sohn dieser Frau ist einschlägig aktenkundig: Drogen, Gewaltdelikte, auch mehrere Sexualdelikte.«
Feisel sah Schrader an, wurde hellhörig.
»Er soll laut Aussagen sogar schon seine minderjährige Schwester begrapscht haben, und er ist dafür bekannt, dass er schnell ausrastet, also labil ist. Es gibt nur nie Zeugen, immer nur Aussage gegen Aussage. Bisher wurde erst ein einziges Mal wegen § 20 Strafgesetzbuch nicht schuldig gesprochen. Er war sogar schon in der Klapsmühle. Läuft aber immer noch frei rum.«
»Und die Frau eben ist seine Mutter?«
»Sie wohnt da oben im nächsten Block, also im dritten. Manche Aussagen über sie lassen vermuten, dass sie ihn beschützen will. Manche sagen, sie habe Angst vor ihm. Könnte sein, er wird gegen jeden und wegen allem aggressiv, auch seiner Mutter gegenüber, und übrigens auch gegen Polizeibeamte. Im gesamten Stadtgebiet hat er den Beinamen “Messer-Mike“. Böse Zungen behaupten auch, er sei Mamas` kleiner Liebling.«
»Und der Vater?«
»Er war Alkoholiker und ein stadtbekannter Schläger. Er starb, als der Sohn 12 Jahre alt gewesen ist.«
»Wie alt ist der Sohn heute?«
»Fünfundzwanzig.«
»Wie meinten Sie das eigentlich eben mit `Mamas` kleiner Liebling`?«
»Sie haben richtig verstanden. Das würde passen, wenn auch die Aussagen bezüglich auf das angebliche Betatschen seiner Schwester passen.?«
Feisel dachte für einen Moment laut. »Der Paragraph 20 im Strafgesetzbuch ist ein Schuldausschließungsgrund. Wenn bei ihm tatsächlich eine Art von Behinderung vorhanden ist, muss man ihn vor der Gesellschaft und die Gesellschaft vor ihm schützen. Ist er gesund, gehört er in den Knast. Möglicherweise möchte die Mutter tatsächlich nur ihre Familie beschützen, mit sowas muss man behutsam umgehen. Wie heißt die Familie mit Nachnamen?«
»Lauterbach.«
Feisel zückte einen kleinen Block und einen Kugelschreiber aus der Jackentasche, und begann zu notieren, seine Kollegin sah ihm zu. Kurz darauf bat er sie, nach Hause zu gehen.
Schrader stieg aber nicht aus. »Ich vermute, Sie geben mir jetzt Ihre Karte, und sie melden sich.«
»Sie haben mir schon sehr viel geholfen, Frau Kollegin. Kommen Sie gut heim.«
Daraufhin stieg Schrader aus dem Auto. Ihm war durchaus bewusst, dass sie sich nicht beeinflussen lassen wollte. Er hätte keine Chance gehabt. Ihm war nur wichtig, dass sie sich nicht in die laufenden Ermittlungen einmischt, solange sie außer Dienst ist, immerhin war er für sie verantwortlich.
Einen Moment später rief er seinen Vorgesetzten Stoll an und bat ihn um die Akte Lauterbach. Außerdem setzte er ihn darüber in Kenntnis, dass er sich den Tatort genauer ansehen wolle. Kurz darauf stieg er aus und ging zu dem Haus.
Die Hinterseiten des zweiten und des ersten Wohnblocks trennten eine Wiese. Der Tatort befand sich auf der gegenüberliegenden Seite, also rücklings des ersten Blocks. Feisel ging dort hinüber und sah sich um, die Polizeiabsperrungen waren bereits entfernt. Auf der Wiese, unmittelbar an der Hauswand des ersten Blocks, waren mehrere Fußabdrücke und noch etwas Blut zu sehen. Die Projektile waren alle entfernt worden. In der Hauswand befanden sich zwei Einschusslöcher. Er sah sie sich genauer an, um so eventuell die Größe der Munition zu ermitteln, und somit eventuell das Modell der Waffe. Die Lage der Einschusslöcher verriet ihm, dass diagonal nach unten in die Hauswand geschossen wurde, also von oben des Hauses. Er sah sich abwechselnd die einzelnen Fenster des zweiten Wohnblocks und die Hauswand des ersten Wohnblocks an. In der 2. Etage des zweiten Wohnblocks war ein Fenster gekippt. Daraus vernahm er zunächst eine männliche und eine weibliche Stimme, beide klangen nach jüngeren Personen. Als er aus derselben Wohnung ein mehrfaches Klatschen und das Wehgeschrei der weiblichen Person vernahm, ging er auf die Vorderseite des zweiten Wohnblocks zur Haustür. Zu seiner Überraschung stand neben der mittleren Klingel der Name “Lauterbach“. Er drückte die Tür mit dem Summen auf und ging nach oben. Die Tür wurde nur einen Spalt geöffnet, sodass nur eine Körperhälfte eines jungen Mannes zu sehen war. Er hatte in etwa dieselbe Statue wie die ältere Frau unten auf der Straße, er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift “Bull“, eine Trainingshose mit drei Streifen, Socken, und Badelatschen. Um den Hals trug er eine Panzerkette mit einem Fingerring als Anhänger. Sein Haar war kurz geschnitten und blondiert. Ohne bisher je ein Wort mit dem jungen Mann gesprochen zu haben, erwartete Stenzel nicht, dass der junge Mann hochdeutsch sprach – wobei Feisel allerdings auch professionell genug war, nicht zu stigmatisieren.
»Unn? Was is?«, eröffnete der junge Mann das Gespräch. Aus dem Hintergrund vernahm Feisel ein Schluchzen. Dem Klang nach das einer weiblichen Person, vermutlich seine Schwester.
»Guten Tag. Feisel mein Name. Kripo Zweibrücken.« Er zeigte seinen Dienstausweis.
»Unn? Was wolle se?«
»Wäre Feisel mit der Tür ins Haus gefallen, hätte man ihm sehr wahrscheinlich die Tür vorher vor der Nase zugemacht.
»Ist Ihre Mutter zu sprechen?«
»Die is net do.«
Aus dem Hintergrund erkundigte sich die junge Frau nach dem Besuch. »Wer is`n do?«
Der junge Mann, offensichtlich der “Messer-Mike“, reagierte wie von Schrader beschrieben aggressiv. Er eilte ins Innere der Wohnung und ließ die Wohnungstür unberührt. Dann hörte Feisel ein lautes Klatschen, die junge Frau schrie auf. Der “Mike“ Lauterbach schrie die junge Frau an: »Ich han dir gesat, halt die Fress, du Bitch!«
Feisel stieß bereits während des Klatschens die Tür auf, überwältigte den jungen Mann, drückte ihn bäuchlings auf den Boden, stützte sein Knie auf dessen Rücken und hielt dessen Arm fest.
»Ganz ruhig, junger Mann.«, sprach er ihm zu. »Ganz ruhig. Machen Sie bitte die Tür zu?«, bat er dann die junge Frau, sie befolgte seine Aufforderung schluchzend.
»Ich bekomme bitte von Ihnen beiden die Personalausweise.«
»Fick dich, du scheiß Bulle!«, schrie der junge Mann.
Feisel zückte seinen Notizblock und Kugelschreiber und tat so, als würde er schreiben. Während dessen sagte er: »Oh…! Körperverletzung, Beamtenbeleidigung… Nur weiter so.«
Der junge Mann entgegnete: »Fick dich! Ihr kenne mir gar nix, ich bin schuldunfähich, haha!«
»Bekomme ich nun eure Ausweise oder nicht?«
»Ja, Moment..« Die junge Frau eilte in ihr Zimmer und in das des jungen Mannes, und kam mit zwei Ausweisen zurück. Sie war mit einem Minirock und einem bauchfreien Top ohne BH bekleidet und barfuß. Die Anhaltspunkte sollten sich bestätigen: Jana Lauterbach, 17 Jahre alt, ledig, und Michael Lauterbach, 25 Jahre alt, ebenfalls ledig.
»Geh` vun mir runner, du fetti Sau!«, chrie der junge Mann, der noch immer auf dem Boden lag und fixiert war, Feisel an.
»Für Sie, Herr Lauterbach, ist der heutige Tag vorbei. Ich nehme Sie wegen Körperverletzung und mehrfacher Beleidigung, und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte fest.«
Während Lauterbach noch mehr Ausdrücke ausspuckte, griff Feisel nach seinem Handy und wählte die 110. Dann legte er Lauterbach Plastikarmbänder um die Handgelenke und stand auf. Lauterbach hätte sich mit den Händen beim Aufstehen abstützen müssen, mit dem Oberkörper war dies nicht möglich.
Feisel bat Jana Lauterbach für ein Vier-Augen-Gespräch ins Wohnzimmer und schloss die Tür von innen.
»Halt die Fress!«
Jana Lauterbach stand mit verweintem Gesicht und Tränen in den Augen da, sie zitterte am ganzen Körper. Ihr Gesicht war rot von den Schlägen ihres Bruders.
»Wie Sie vielleicht wissen, ist da draußen vor kurzem ein Polizist getötet worden.«
Sie sah abwechselnd zu Feisel und trotz geschlossener Tür in Richtung Korridor, konnte die Tränen kaum zurückhalten.
Feisel versuchte, sie zu erreichen. »Sie sind hier bei mir sicher. Die Kollegen kommen gleich, und wir reden im Revier in aller Ruhe. Einverstanden?«
»Ich bring` dich um!«, chrie Lauterbach draußen
Im selben Moment klingelte es Sturm. Feisel öffnete die Tür. Er zeigte seinen Kollegen von der Schutzpolizei seinen Dienstausweis. Worum es ging, musste vor Ort erst mal nicht geklärt werden, das hatte Lauterbach schon selber getan.
»Sie dürfen sich jetzt anziehen. Haben Sie Ihren Schlüssel?« Er sah Jana Lauterbach an. Sie zog den Minirock aus und Schuhe und eine Hose an, und eine Weste über das Top.
Unterwegs berichtete er Stoll, dem Leiter der Mordkommission, telefonisch von den Geschehnissen. Er bat, Schrader mit hinzu zu ziehen, es sei von Frau zu Frau besser. Als sie im Revier eintrafen, war Schrader bereits vor Ort.
Während die Kollegin Schrader sich mit Jana unterhielt, studierte Feisel die Akte Michael Lauterbach. Dieser war anscheinend sowieso nicht vernehmungsfähig. Um jedoch sichergehen zu können, ordnete Feisel Lauterbachs Blutuntersuchung durch einen Amtsarzt an, um den Verdacht auf Drogenkonsum prüfen zu können.
Auch der Vater Lauterbach war wegen Gewalttaten mit häufigem Alkoholkonsum einschlägig bekannt, er verprügelte seine Frau und seine Kinder regelmäßig. Mit Eintritt der Pubertät wurde Michael Lauterbach vermehrt aggressiv, begann zu rebellieren, sich gegen jede Art von Regeln zu widersetzen. Er litt unter den jahrelangen Verschmähungen seitens seines Vaters, er hasste ihn regelrecht. Doch nach und nach gewann er durch selbiges Verhalten die Kontrolle über seine Mutter und über seine Schwester.
Bereits mit 13 Jahren wurde er erstmals polizeilich bekannt, es ging um Ladendiebstähle, außerdem wurde er bereits zu dieser Zeit von der Schule verwiesen, er schwänzte häufiger und seine Noten wurden schlechter. In der neuen Schule fand er zwar schnell Anschluss, allerdings gleichzeitig auch falsche Freunde. Er stahl ab nun im größeren Stil, schwänzte weiterhin die Schule und konsumierte ab nun auch Cannabis. Als 15-jähriger wurde er erstmals wegen Körperverletzung verurteilt, er wurde zu ein paar Sozialstunden verurteilt. Stenzel überraschte nicht, dass Lauterbach selbst von anderen Jugendlichen gemobbt und verprügelt wurde. Im selben Jahr kam eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung einer Mitschülerin hinzu, er hatte heimlich in der Umkleide Bild- und Videoaufnahmen von ihr gemacht, und gedroht, diese ihren Eltern zu zeigen, wenn sie nicht mit ihm schlafe. Als diese sich weigerte, drohte er, dieses Material in der Schule zu zeigen. Er wurde zu einer Bewährung nach Jugendrecht und zu weiteren Sozialstunden verurteilt. Die Schule hatte er ohne Abschluss verlassen.
Ein Jahr später kam die erste Verurteilung wegen Drogenmissbrauchs hinzu, es ging dann schon um Kokain, und eine Verurteilung wegen Zuhälterei, er hatte zwei Mitschülerinnen auf dem Schulhof angeworben, um sie für ihn anschaffen zu gehen. Ein Jahr Jugendgefängnis war die Folge, die Bewährung wurde widerrufen und die bisherige Dauer der Bewährung wurde angerechnet. Als knapp 18-jähriger erfolgte die erste Verurteilung wegen einer Vergewaltigung. Aufgrund der Vorstrafen musste er ein weiteres Jahr ins Jugendgefängnis. Kurz nach der Entlassung begann er die nächste Vergewaltigung, diesmal in Kombination mit körperlicher Gewalt. Dieses Mal musste er für dreieinhalb Jahre ins Jugendgefängnis mit Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung. Als er 22 Jahre alt war, wurde eine junge Frau aus der Stadt vergewaltigt und beinahe zu Tode gewürgt. Lauterbach wurde der Prozess gemacht, und obwohl man ihm nichts nachweisen konnte, war er von allen Verdächtigten derjenige mit den meisten Vorstrafen dieser Art, ein Indizienprozess also. Den er verlor und anstatt in Haft unmittelbar in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Nach einem Jahr war er wieder frei.
Die Nachbarn werden später aussagen, dass sie mit Jana Lauterbach und ihrer Mutter nur klar kamen, wenn er nicht zu Hause war. Weil er bis dato noch immer niemanden umgebracht hatte, wie sie vermuteten, ging das Gerücht um, dass er einen an der Murmel habe, also nicht zurechnungsfähig sei, wobei sie sich wunderten, dass er immer wieder frei gekommen war. Ein bis dato typisches Merkmal für ihn, wie Nachbarn und andere Zeugen später aussagen werden: Er wurde schnell laut und aggressiv, und wenn er sich nicht mehr zu helfen wusste, hatte er jeden und alles mit einem Messer bedroht, daher sein Spitzname. Eigentlich hätte der junge Mann mehr Jahre im Gefängnis gesessen haben müssen, als er Lebensjahre vorweisen konnte. Bei ihm wurde aber nur bei einer Verurteilung die Schuldunfähigkeit nach § 20 Strafgesetzbuch angewandt. Der § 211 des Strafgesetzbuches, nämlich Mord, zählte zu den wenigen Paragraphen, die noch nicht in seinem Register standen.
Jana Lauterbach war nicht vorbestraft. Über Sie war nur zu erfahren, dass Sie auf der Hauptschule mittelmäßige Noten hatte und sich gelegentlich den Lehrern und manchen Mitschülern gegenüber verhaltensauffällig zeigte. Auf Stenzels` weiteren Nachfragen erfuhr er, dass sie so gut wie keine Freundinnen hatte und meist mit Jungs rumhing, und es kursierten Gerüchte, dass sie angeblich sowieso lieber Männer bevorzugte, die hätten beinahe ihr Vater sein können.
»Immer wieder starker Tobac, sowas.«, kommentierte Feisel vor sich hin, legte die Akte auf den Schreibtisch, lehnte sich zurück und atmete durch. Nachdem er einen Moment die Akte des Verdächtigten hatte sacken lassen, beantragte er beim zuständigen Staatsanwalt einen Durchsuchungsbeschluss für den nächsten Tag. Es gab offensichtlich Indizien, dass Michael Lauterbach etwas mit der Vergewaltigung zu tun hatte oder zumindest etwas darüber wusste.
Im selben Moment kam Schrader zu ihm ins Büro. Sie berichtete ihm von Jana Lauterbach.
»Sie ist total aufgelöst. Immer wieder hat sie Weinkrämpfe. Erst wollte sie sich nicht öffnen. Anscheinend bin ich aber die erste Person, die menschliches Interesse an ihr bekundet hat. Und sie hat immer wieder beteuert, dass er sie mehrfach sexuell belästigt und genötigt hat. Sie spricht auch von Vergewaltigung seitens ihres Bruders.
»Wundert mich nicht, das entspricht seinem Profil. Ich hab` gerade die Akte gelesen. Der junge Mann zeigt soziopathische Merkmale auf, also fern jeglicher Empathie. Schon mal darüber nachgedacht, dass er etwas mit der Vergewaltigung und Tötung der Frau zu tun hat?«
»Zutrauen würde ich es ihm.«
»Das würde wohl jeder, der ihn schon mal gesehen und gehört hat. Ich hab´ für morgen einen Durchsuchungsbeschluss beantragt. Für heute habe ich genug. Und was machen Sie?«
»Mich um Jana kümmern?«
»Nein, das werden Sie nicht tun?«
»Vielleicht braucht Jana Hilfe?«
»Sind Sie jetzt auch Psychologin?«
»Nein, aber Ermittlerin?«
»Im Moment leider im Krankenstand. Tät-tä, tät-tä!«
Während sie sich zur Tür umdrehte und beim Rausgehen zu wippen begann, sang sie (mit einigen Fehlern): »Ja, wenn et Trömmelche geht, dann steh`n ma all parat. Un ma trecke durch die Stadt. Un jeder hätt gesaat…«
Noch als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute er ihr wie vom Blitz getroffen hinterher. Dann setze er sich wieder, der Aufdruck “Bull“ auf Lauterbachs` T-Shirt beschäftigte ihn. Möglicherweise sagte dieser etwas über ihn aus. Feisel recherchierte im Internet. Er fand zwei Möglichkeiten, den Zusammenhang mit einer Sportart und die Definition des Sternzeichens Stier schloss er aus. Die eine mögliche Variante wäre der “Bully“, das definiert Personen, die gemeinsam eine andere Person nötigen, stalken, verprügeln und sexuell belästigen oder gar vergewaltigen. Die andere Möglichkeit wäre die eines “Bull“, also eines Nutznießers, wenn ein Mann eine Frau unentgeltlich für Sex anbietet und selbst Erregung daran empfindet.
Feisel vermutete einen Zusammenhang mit Janas` Erläuterungen. Hat “Messer-Mike“ etwa seine Schwester angeboten? Und was war an dem Gerücht mit “Mamas` kleiner Liebling“ dran? Für heute hatte er wirklich genug. Er wünschte seinen Kollegen einen schönen Feierabend. Beim Verlassen des Gebäudes sagte er kopfschüttelnd zu sich selber: »Eine Frau ist doch kein Auto!«
Um abzuschalten, beschloss er, einen weiteren Rundgang durch Zweibrücken zu machen. An der frischen Luft überkam ihn das Hungergefühl. In der Fußgängerzone, ganz in der Nähe der Alexanderkirche entdeckte er eine kleine Pommesbude. Hinter ihm stellten sich zwei weitere Kunden an. Zu seiner Überraschung war die Verkäuferin die Mutter von Michael und Jana Lauterbach. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und säuberte während dessen eine Fritteuse. Er ließ sich nicht anmerken, dass er sie Stunden vorher gesehen und bereits über sie gesprochen hatte.
»Guten Tag. Ich bekomme bitte eine Bratwurst.«
»Hamma net.«, war ihre Antwort, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Dann hätte ich gerne eine Curry-Wurst.«
»Hamma net.«
»Dann nehme ich eine Cola.«
»Hamma aah net.«
Im Weggehen schüttelte er den Kopf und sagte: »Sehr nett…!«
Er ging die Fußgängerzone bis zum Ende und bemerkte unten am Hallplatz einen Imbiss, auf dessen Schild über der Tür “Brutzelstubb am Sauplacke“ stand, erkennbar an den Schweinsstatuen an der Brücke. Die Frau hinter der Theke schien in seinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger.
»Guten Tag. Wird bei Ihnen auch Bratwurst… gebrutzelt?«
Die Frau antworte im Dialekt: »Ei jo, isch gebb Ihne ennie.«
»Gibt`s bei Ihnen zufällig Kölsch?«
»Bier. Kölsch.« Er zeigte mit den Fingern etwa die Größe einer Bierflasche.
»Bei uns gebt`s nur Pils. Isch kann Ihne ach e Altbier anbiede.«
Er winkte ab. »Ich nehme dann doch lieber eine Cola.«
Die Frau bemerkte im Halb-Hochdeutsch und Halb-Dialekt: »Isch höre raus, dass Sie von Düsseldorf sind. Deswege han isch`s gut gement.«
Feisel lachte höflich: »Knapp daneben. Ich bin aus Köln.«
Die Frau lachte: »Ah…! Jetzt kann isch Sie verschtehen. Isch habe Bekannte in Düsseldorf. Ist ja nischt dasselbe. Sind Sie zu Besuch?«
»Kann man so sagen. Was gibt es hier eigentlich für Sehenswürdigkeiten?«
Die Frau schaute nach draußen und antwortete dann lächelnd im Dialekt: »Ei, de Zoo, unser ach so scheenes Museum… Han se schun e mol do naus geguckt?«
Feisel wirkte wie versteinert. »Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alles nur schlecht ist.«
Sie übte sich im Hochdeutsch. »Na ja, nicht ganz. Ist immer weniger geworden hier. Auch viele Arbeitgeber von früher gibt`s nicht mehr. Vor ein paar Jahren hatten wir noch einen Flughafen.«
»Hier in Zweibrücken?«
»Der musste nach EU-Beschluss wegen angeblicher Fehlinvestitionen Insolvenz anmelden und ist jetzt ein privater Sonderlandeplatz.«
»Das ist bestimmt auch alles Nährboden für Kriminalität.«
»Da sagen sie was.«
»Haben Sie schon mal den Namen “Messer-Mike“ gehört?
»iesen Namen kennt hier jeder. Man erzählt, dass er und seine Freunde junge Mädchen aussuchen und auf den Strich schicken. Dem würde ich die Eier.. Huch!« Sie nahm die Hand vor den Mund und lachte verlegen.
»Wissen Sie was Genaueres oder sind das nur Gerüchte?«
»Der wohnt hinten im Langental mit seiner Schwester in einer Wohnung. Seine Mutter wohnt auch im Langental, aber alleine, arbeitet oben an der Alexanderkirche im Imbiss. Sie hatte schon seit Jahren keinen Mann mehr, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber wer weiß, was die mit den beiden alles mitmacht, sie ist immer mürrisch. Und das Mädchen tut mir so leid.«
»Was erzählt man denn noch alles? Erzählt man da auch was mit Waffen?«
»Waffen, Drogen… Im Prinzip sind das Asoziale. Gesetzlose halt.«
»Aha…«
»Ja. Einer, der dort verkehrt, dem sein Bruder geht mit meinem Enkel in die Schule.«
»Von dem haben Sie bestimmt einen Namen.«
»Mohr heißen die. Der große Bruder heißt glaube ich Tobias. Ja, genau: Tobi nennen ihn alle. Hoffentlich wird man denen das Handwerk legen.
Er bedankte sich für die Freundlichkeit und verabschiedete sich.
Erfreut über die Geselligkeit der Bedienung und über zahlreiche Informationen beschloss er, seinen Rundgang fortzusetzen.
Unmittelbar hinter dem Sauplacke, der eigentlich Hallplatz hieß, standen links und rechts zwei größere, weiße Gebäude, die unschwer zu erkennen noch aus der Zeit der Renaissance stammten. Wie er über Handy im Internet nachlesen konnte, handelte es sich im linken Gebäude um das Rathaus und um das Standesamt, im rechten Gebäude waren Amtsgericht, Landesgericht.Nachdem er sich über diese Gebäude belesen und diese fotografiert hatte, setzte er seinen Rundgang am Schwarzbach fort in Richtung Gestüt und Pferderennbahn. Er kam aus dem Staunen nicht raus.
“Das ist ja wie bei uns in Köln“, dachte er. Von beidem machte er mehrere Bilder.
Vom gegenüberliegenden Rosengarten glaubte er, schon mal im Fernsehen gehört zu haben. Er nahm sich vor, während seines Besuches aufzusuchen.
Er ging auf der Saarlandstraße an der Festhalle vorbei, die Gegend am Ende kam ihm bekannt vor, dort war nämlich die Landauer Straße, wo auch das Polizeipräsidium war.
An dieser Kreuzung ging er weiter auf die Molitorstraße, dort an der JVA vorbei, weiter über die Seilerstraße und die Steinhauser Straße und dort oben am Ende, auf der 22er Straße stand ein mehrstöckiges, grünes Gebäude, in dem alle Lichter aus waren, das also entweder wenig oder gar nicht genutzt worden schien. Während er es fotografierte, musste er sich ein Lachen verkneifen und sagte: >>Hamma net.<