Kurzgeschichte: Der neue Kollege

Es war bereits Nachmittag, als City-Detektiv Stefan Römer vier junge Männer beobachtete, etwa Mitte 20 bis Ende 20 Jahre aussehend. Römer vermutete ihre osteuropäische Herkunft anhand ihrer Sprache, während er ihnen folgte. Aus einem Kaufhaus wurde ihm kurz zuvor telefonisch mitgeteilt, vier junge Männer, deren Beschreibung derer entsprach, denen er folgte. Den Informationen nach sollen sie mehrere Handys gestohlen haben. Jeder der vier Männer, denen er folgte, trug einen Rucksack, und auch deren Kleidung entsprach den Beschreibungen.

Im Team wäre es sicher einfacher gewesen, die Verdächtigten zu stellen. Der letzte Kollege hatte sich im Alter von Mitte 50 Jahren als Sicherheitsmitarbeiter verabschiedet, um sich mit einer Firma für Sicherheitstechnik selbstständig zu machen. Seit etwa einem dreiviertel Jahr erledigte Römer seinen Job alleine. Etwa ein Dutzend Kollegen hatte er in dieser Zeit kommen und nach nur ein paar Tagen wieder gehen sehen. Entweder waren diese Kollegen zu unerfahren oder der Job entweder zu stressig oder ihrer Ansicht nach zu schlecht bezahlt. Einmal hatte ein Kollege nach drei oder vier Tagen im Job gegenüber Römer geäußert, dass er mit demselben Arbeitgeber, bei dem auch Römer beschäftigt war, in Verhandlung stünde, 25 Euro brutto zu bekommen. Römer entgegnete mit ernster Miene »Pro Woche oder pro Monat?«, worauf der Kollege schwieg, aber bereits am nächsten Tag nicht mehr erschien.

Mit seinen 38 Jahren war Römer bei weitem noch nicht zu alt für diesen Job, und außerdem schlank und betrieb regelmäßig Sport, so konnte er die vier Verdächtigten ohne Mühe und mit Sichtkontakt in unmittelbarer Nähe des Kaufhauses der belebten Fußgängerzone stellen. Im Abstand von etwa 2 Metern stellte er sich vor die Männer, nahm seinen Dienstausweis aus der Jackentasche, den er den Männern zeigte.
»Römer mein Name, City-Streife, guten Tag.«, begrüßte er sie freundlich. Aber noch bevor er sagen konnte, warum er sie angehalten hatte, wurde er von einem der Männer mit einem unfreundlichen »Was willst du?!« unterbrochen. Der Verdacht der osteuropäischen Herkunft der Männer intensivierte sich aufgrund ihres Akzents, und Römer stellte sich darauf ein, dass die Männer nicht kooperativ sein dürften. Ihm war klar, dass die Männer aufgrund ihrer Herkunft durchaus negative Erfahrungen gemacht haben könnten.
»Sie alle sind beim Diebstahl mehrerer Handys gesehen worden.«, stellte er freundlich fest. »Ich darf Sie alle bitten, Ihre Rucksäcke zu öffnen, damit ich da rein sehen kann.«
Alle vier Männer verneinten leise und alle sahen einander an.
Römer ging davon aus, dass er nicht verstanden wurde. »Haben Sie in diesem Kaufhaus Handys gestohlen? Ja oder nein?«
Wieder verneinten alle untereinander ansehend.
»Dann haben Sie doch nichts zu befürchten. Öffnen Sie bitte ihre Rucksäcke.«
Das Spiel “Vier gegen einen“ oder auch “Acht Hände gegen zwei“ sollte sich als nicht leicht herausstellen. Einer der Männer zog seinen Rucksack ab, was ein anderer bemerkte und Römer mit der flachen Hand eine so heftige Ohrfeige verpasste, dass dieser fast das Gleichgewicht verloren hätte. Dies sollte wohl ein abgesprochenes Signal zum Aufbruch sein, denn nun rannten alle vier auf einmal los. Obwohl Römers Gesichtshälfte von der Ohrfeige brannte, gelang es ihm, einen der vier Männer zu Boden zu zwingen.
»Sie sind vorläufig festgenommen.«, sagte er zu dem Mann.
Einer der anderen drei Männer sagte irgendwas zum Festgenommenen in seiner Landessprache, was Römer aber nicht verstand. Während er nebenbei registrierte, dass einige Passanten stehenblieben, manche sich über den Vorfall unterhíelten, griff er nach seinem Handy in der Jackentasche und verständigte die Polizei. Der festgenommene Mann versuchte sich noch zu wehren, aber Römer hielt dessen Arm auf dessen Rücken gedreht fest, zusätzlich mit seinem Knie auf dessen Rücken und hielt sich seine eigene Wange. Einige Passanten blieben weiterhin stehen, manche lachten.

Etwa 10 Minuten später waren drei Streifenwagen mit je zwei Beamten eingetroffen.
»Wie viele waren es?«, fragte einer der Beamten.
»Vier insgesamt. Die anderen drei sind da lang gerannt.«, antwortete Römer und zeigte in die Richtung. Sofort fuhren vier Beamte in zwei Polizeiwagen mit Blaulicht und Martinshorn los. Eine Beamtin und ein Beamter blieben bei Römer und dem Festgenommenen.

Nur mit Mühe und Not konnten die Beamten Bruchstücke in schlechtem Deutsch von dem Festgenommenen erfahren, er hatte keine Personalien bei sich. Während er auf dem Rücksitz des Streifenwagens saß, erkundigte sich ein Beamter per Funk, ob die drei anderen Verdächtigten gefasst werden konnten, unter ihnen der Mann, der Römer geschlagen hatte. Die Beamtin erkundigte sich nach Römers Gesundheitszustand und befragte ihn dann nach dem Vorfall und schrieb mit.
Irgendwann kam ein Passant keuchend hinzu. Er hatte den Mann festgenommen, der Römer geschlagen hatte. Römer identifizierte den Täter.
»Und wer sind Sie?«, wollte der Beamte von dem Passanten wissen.
Der Mann gab dem Beamten seinen Personalausweis und sah kurz zu Römer hinüber. Der zweite Festgenommene trug Personalien bei sich. Im Verlauf des Interviews zwischen dem Passanten und dem Beamten hörte Römer, wie der Passant sagte: »Ehrensache. Wenn Gesundheit, Leben oder Freiheit anderer in Gefahr sind, darf jeder unter Einhaltung der Rechtsvorschriften vorläufig festnehmen. Das ist doch ein Jedermannsrecht.«, worauf der Beamte nickte. Mehr bekam Römer nicht mit, da er selbst noch befragt wurde.
Wie sich später herausstellte, stammten die vier Männer aus Osteuropa, bewohnten gemeinsam dasselbe Wohnheim, und gehörten zwar nicht zu einer kriminellen Bande, sind allerdings alle wegen Diebstahlsdelikten und Beleidigungen polizeibekannt.
Als alle Zeugen- und Täteraussagen protokolliert waren, die Lage sich beruhigt hatte, und die Polizeibeamten davon fuhren, ging der Passant, der den Schläger festgenommen hatte, auf Römer zu, reichte ihm die Hand und sagte »Hallo. Hasan Simsek mein Name.«
»Stefan Römer. Hallo.«, stellte auch er sich vor und reichte Simsek ebenfalls die Hand. Dass ein Passant ihm nach einem Einsatz die Hand reichte, war nicht gewöhnlich. In diesem Fall aber bedankte sich Römer bei Simsek und lud ihn zum Feierabend-Kaffee in zwei Stunden ein, worauf er zustimmte.
»Wenn du nichts dagegen hast…« sprach Simsek weiter »…, würde ich dich gerne bis zum Kaffee nachher während deiner Arbeit begleiten.«
Römer schien sichtlich amüsiert, er lachte. »Ich mache diesen Job seit knapp 10 Jahren. Bis vorhin habe ich keinen Bodyguard gebraucht.«
Simsek verstand die Ironie und entgegnete schmunzelnd: »Genau. Bis vorhin….«
Römer kommentierte das nicht, sondern sah sich nach möglicher „Beute“ um und sagte nur: »Ich sag` dir Bescheid, wenn du mir helfen kannst.«

Während sie durch die Fußgängerzone schlenderten und nach verdächtigten Personen Ausschau hielten, stellte Simsek immer wieder Fragen. Römer bemerkte irgendwann: »Quatschen können wir nachher beim Kaffee.«
»Okay.«, bestätigte Simsek.
Nach einer Weile blieb Römer stehen. Er bemerkte vor einem Kleidungsgeschäft eine nicht unattraktive Blondine, etwa Mitte 20 Jahre alt, die an einem Kleiderständer drehte und dabei immer wieder in das Geschäft schaute. Ihm war aufgefallen, dass sie gerade etwas in die Handtasche gesteckt hatte. Sie schien nervös. Römer wies Simsek auf die Frau und auf den Vorfall hin, dann gingen sie gemeinsam zu ihr rüber.
Auf dem Weg zu ihr holte Römer seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und stellte sich neben der Frau auf die eine Seite, Simsek unaufgefordert auf die andere Seite.
»Römer. City-Detektiv. Guten Tag. Sie sind gerade dabei gesehen worden, wie sie ein Kleidungsstück in ihre Handtasche gesteckt haben.«
Die Frau reagierte mit einem »Dann schreib deine Anzeige, du Glücklicher, und verpiss dich, du Idiot!«
Eine Verkäuferin kam aus dem Geschäft dazu und fragte Römer und Simsek, was sie von der Frau wollten. Römer zeigte der Verkäuferin seinen Dienstausweis und erzählte ihr von der vermeintlichen Kundin. Dann gingen die beiden Frauen in Begleitung von Römer und Simsek ins Geschäft. Eine zweite Verkäuferin bemerkte »Ach, die kennen wir doch!<<« Der Diebin schien das peinlich und kommentierte: »Oh…! Guckt mal alle, wie stolz sie wieder ist. Jetzt hat sie ja ihr Erfolgserlebnis.« Die zweite Verkäuferin lächelte nur und sagte zu Römer und Simsek: »Wir kümmern uns drum. Vielen Dank.« Während sie sich vom Geschäft entfernten, fragte Simsek: Wi»eso hast du dir nicht ihren Ausweis zeigen lassen? Und wieso warten wir nicht, bis die Polizei da ist?« »In dem Geschäft sind Kameras, und die Frau ist bekannt, das weiß sie aber auch selber. Hast ja gesehen, wie sie reagiert hat.« Dann fragte Römer grinsend: »Von der hättest du dir bestimmt die Personalien geben lassen?«, worauf Simsek auf den Boden schaute und ebenfalls grinste.

Beim Feierabend-Kaffee lobte Römer Simseks Einsatz und bedankte sich nochmals für die tatkräftige Hilfe. »Woher kennst du dich mit den Jedermannsrechten aus?«
Simsek erzählte ihm, dass er nach der Berufsausbildung zum Lageristen ein paar Jahre lang ehrenamtlich in einem Flüchtlingswohnheim gearbeitet hatte. Das mache ihm aber keinen Spaß mehr, nun sei er im Alter von 25 Jahren auf der Suche nach einer richtigen Herausforderung. Der Umgang mit Menschen mache ihm Spaß. Im Gegenzug erkundigte er sich bei Römer, für wen er arbeitet, wie lange er den Job schon alleine macht. Römer erzählte ihm von den Ansichten mancher Ex-Kollegen und plauderte ein wenig aus dem Nähkästchen, bis sie sich verabschiedeten.
Zwei Tage später wurde Römer kurz vor Dienstanritt via Anruf ins Büro eines Kaufhauses gebeten, man habe mit ihm etwas zu klären. Für Beschwerden oder sonstige Anliegen war in der Regel sein Arbeitgeber zuständig. Aber man kannte sich, also folgte er der Bitte aus dem Kaufhaus.
Zu seiner Überraschung saß auch Simsek im Büro. »Was kommt jetzt?«, fragte er verwundert.
»Sie sind des Diebstahls verdächtigt…«, der Geschäftsführer grinste.
Römer musste laut lachen, Simsek und der Geschäftsführer auch. Dann wählte Simsek auf seinem Handy via Kurzwahl eine Nummer und sagte: »Er ist hier.«
Dann stellte Simsek sein Handy auf laut. »Guten Morgen, Stefan.«, begrüßte ihn die Frau am anderen Ende, man konnte hören, dass sie sich ein Lachen verkneifen musste. »Du bist ab heute nicht mehr alleine. Hasan Simsek hat wie du den Lehrgang für die Sachkundeprüfung (Sachkunde nach § 34a der Gewerbeordnung) absolviert und ist ab jetzt dein neuer Kollege.«
»Ihr seid mir Spaßvögel…!«, murmelte Römer, worauf alle lachten und er und Simsek sich handschlagend begrüßten.

Was meinen Sie: welche Straftaten sind hier begangen worden und welche Rechtsgüter wurden angegriffen? Nutzen Sie gerne die Jedermannsrechten als Hilfestellung.

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